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Mitbestimmung am Arbeitsplatz

Einer für alle – alle für einen

Bei der dialogischen Unternehmenskultur zeigen Mitarbeitende ein hohes Maß an Eigeninitiative, bringen Ideen ein und treiben sie voran. Wie gelingt das? Ein Interview.

In vielen Lebensbereichen finden wir es selbstverständlich, mitzusprechen und Entscheidungen zu treffen – bei Wahlen oder auch bei Themen im Familien- oder Freundeskreis. Aber gerade in der Arbeitswelt sieht das häufig anders aus, obwohl die Mehrheit der Deutschen immerhin knapp acht Stunden täglich arbeitet. Klassische Hierarchien und Führungsstrukturen sind vor allem in großen Betrieben normal. Nicht überall: Katharina Wagner-Emden ist Organisationsentwicklerin bei dm-drogerie markt und Expertin für dialogische Unternehmenskultur. Im Interview erklärt sie, was darunter zu verstehen ist und was diese für den Arbeitsalltag der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedeutet.

 

 © Tatiana Meteleva (gettyimages)

 
Frau Wagner-Emden, zum Einstieg ganz grundlegend gefragt: Was bedeutet dialogische Unternehmenskultur?

Wagner-Emden: Ganz zentral ist hier für mich ein Leitsatz, und der lautet: eigenständig im Sinne des Ganzen handeln. Denn dieser Leitsatz sagt: Mitarbeitende sind Individuen und handeln als solche. Sie wollen und können Verantwortung übernehmen und sich weiterentwickeln. Und sie haben die Fähigkeit, sinnorientiert zu handeln und dabei das Ganze, also den Kontext, mitzudenken. Das kann das Team, das Unternehmen oder die Umwelt sein.

Mit Dialog ist im Übrigen nicht das reine Miteinandersprechen gemeint. Es geht um mehr als um einen sinnorientierten Umgang miteinander und mit mir selbst. Das heißt: Ich als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter muss mir mein Denken, Fühlen und Handeln bewusst machen und mich immer wieder fragen, ob das, was ich tue, wirklich das ist, was ich für richtig und wichtig erachte. Und umgekehrt! Also ob ich das, was ich für richtig und wichtig halte, auch wirklich tue.
 

Uns ist wichtig, verständlich zu machen, wie einzelne Elemente im Unternehmen zusammenhängen und dass das eigene Handeln immer Auswirkungen auf das Ganze hat.
Katharina Wagner-Emden, Organisationsentwicklerin bei dm-drogerie markt

 

Wie kann man sich das im Arbeitsalltag vorstellen?

Wir setzen darauf, dass Menschen eigenständig sinnvolle und bewusste Entscheidungen treffen können. Das heißt, dass sie oftmals nicht an allgemeingültige Vorgaben und Richtlinien gebunden sind, sondern situativ entscheiden müssen. Jede und jeder kann und ist aufgefordert, Ideen einzubringen und mitzugestalten. Die Position der Person im Unternehmen ist hier nicht entscheidend. Am wichtigsten ist es, eine bestimmte Frage zu haben – also ein Thema, das eine Person wirklich interessiert, oder eine Herausforderung, die gelöst werden sollte. Denn nur wenn man eine Frage hat, ist man tatsächlich motiviert, sie zu erforschen und eben die passende Antwort – eine Lösung für die Herausforderung – zu finden.


 
Wie gelingt es, dass Menschen im Sinne des Ganzen und nicht nur mit Blick auf sich selbst handeln?

Uns ist wichtig, verständlich zu machen, wie einzelne Elemente im Unternehmen zusammenhängen und dass das eigene Handeln immer Auswirkungen auf das Ganze hat. Mitarbeitende müssen sich also den Kontext des eigenen Handelns immer wieder bewusst machen und dafür natürlich im Kontakt mit ihren Mitmenschen sein.
Ein simples Beispiel, das verdeutlicht, dass das gut klappt: Meine Kolleginnen und Kollegen aus der dm-Zentrale machen, genauso wie ich, regelmäßig Filialpraktika. Wir arbeiten also ganz normal in einer dm-Filiale mit. So lernen wir den Arbeitsalltag der Filialkolleginnen und -kollegen kennen und können ihre Herausforderungen besser einschätzen. Wir sind außerdem direkt mit den Kundinnen und Kunden in Kontakt. Das hilft uns dabei, unsere Arbeit – zum Beispiel Arbeitskonzepte, die wir entwickeln – noch besser auf die Filiale, also unseren Geschäftskern, auszurichten.

 


Wenn man sich demokratisch statt individuell organisiert, trifft die Mehrheit die Entscheidung. Ein Team oder ein Unternehmen weiß also im besten Fall, was die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möchten. Kann das am Ende nicht sinnvoller für alle sein?

Zur Person
Katharina Wagner-Emden hat Betriebswirtschaftslehre studiert. Seit 2013 arbeitet sie bei dm-drogerie markt in Karlsruhe und ist dort seit sechs Jahren im Bereich der Organisationsentwicklung tätig. Bei dm begleitet sie Mitarbeitende, Teams und Organisationseinheiten bei Themen rund um Zusammenarbeit, Führung, Veränderung und Transformation. © Mike Abmaier


Ich würde argumentieren: Mehrheiten können manchmal auch hemmen. Denn es hängt ganz davon ab, wie intensiv sich Menschen mit der Thematik beschäftigt haben, über die sie abstimmen, wie hoch ihre Expertise ist.


Hier ein Beispiel, wenn wir über die Arbeitswelt hinausschauen: Seit Langem wird das Wahlrecht ab 16 diskutiert. Aber eigentlich sollte es weniger um das Alter gehen und mehr um Fragen wie: Wie gut hat sich jemand auf den Wahlprozess vorbereitet, wie intensiv mit den Themen der Wahl auseinandergesetzt? Wie gut kann die- oder derjenige einschätzen, was das Ergebnis einer Wahl bedeutet?


Wenn man das auf Unternehmen überträgt, heißt das: Es ist von Vorteil, wenn Mitarbeitende entscheiden, die eine hohe fachliche Expertise haben. Denn so werden Menschen selbst initiativ und übernehmen Verantwortung für eine Entscheidung und ihre Folgen. Bei demokratischen Abstimmungen ist das manchmal nicht so einfach: Ich kann mich hinter dem Wahlausgang „verstecken“ – das hat ja die Mehrheit so bestimmt. Zudem bringt man Ideen und Projekte meiner Erfahrung nach häufig schneller ins Rollen, wenn weniger Abstimmungsschleifen und weniger Zeit für Überzeugungsarbeit von Mehrheiten benötigt werden.

 

Braucht es bei so viel Eigenverantwortung und Selbstführung überhaupt noch Chefinnen und Chefs?

Ich bin davon überzeugt, dass es in Organisationen Strukturen braucht. Wir arbeiten bei dm allerdings nicht in klassischen Führungsstrukturen. Jede und jeder führt in erster Linie sich selbst und kann eigenständig Entscheidungen treffen. Statt Führungspersonen sprechen wir von Mitarbeiterverantwortlichen. Denn die haben nicht unbedingt vermehrt operative, sondern eher strategische Verantwortungsbereiche. Sie sind eben – wie die Bezeichnung schon sagt – verantwortlich für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Hinter all dem steht der Grundsatz, dass wir uns in erster Linie als Individuen wahrnehmen und uns als solche ernst nehmen. Weil wir eben nicht die Rolle oder das Führungslevel einer Person in den Vordergrund stellen.


 
Klingt nach viel Spielraum und Freiheiten. Was ist aber, wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter gerade nicht so viel Verantwortung übernehmen möchte?

Das selbst zu erkennen, spricht für mich für eine hohe Kompetenz in Sachen Selbstführung. Wenn jemand einen verlässlichen Job macht, dafür aber klare Anweisungen und einen klaren Rahmen möchte, dann ist das total okay. Und vielleicht entwickelt sich durch eine entsprechende Begleitung und Unterstützung doch noch eine andere Haltung. Denn ich erlebe selten, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht die Initiative ergreifen wollen, sondern vielmehr, dass sie nicht wissen, wie. Das können Menschen aber lernen und dabei unterstützt werden. Zum Beispiel durch Zuspruch, Zutrauen oder Weiterbildungen im Bereich der Selbstführung. Ich würde es vielmehr so sehen: Wir bieten Mitarbeitenden die Möglichkeit, Eigeninitiative zu zeigen, Ideen einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Aber wir schreiben natürlich niemandem vor, wie dieser Spielraum genau auszufüllen ist.

 

 

 

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