Das Grundgesetz – viel mehr als ein Provisorium
Happy Birthday, Grundgesetz! Aber wie prägt unsere Verfassung eigentlich seit 75 Jahren den Alltag in Deutschland? Ein Blick in die Entstehungsgeschichte, die wichtigsten Artikel und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart und Zukunft.
Die Ruhe in der eigenen Wohnung genießen, im Sportverein aktiv sein oder diesen Beitrag auf ZEIT ONLINE lesen – all diese Dinge sind keine Selbstverständlichkeit. Durch das Unverletzlichkeitsrecht der eigenen Wohnung (Artikel 13 GG), das Recht zur Bildung eines Vereins oder einer Gesellschaft (Artikel 9 GG) und das Recht auf Pressefreiheit (Artikel 5 GG) sind sie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert und damit geschützt. Am 23. Mai 1949 wurde es verabschiedet, einen Tag später trat es in Kraft – ein ursprünglich als Provisorium angelegtes rechtliches Dokument, das bis heute die wichtigsten Grundrechte sichert. Der 146 Artikel umfassende Gesetzestext hat tiefgreifende Auswirkungen auf unseren Alltag und prägt das gesellschaftliche Miteinander auf vielfältige Weise. Doch wie ist es entstanden?
Die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“
Am 1. Juli 1948 erhielten die westdeutschen Ministerpräsidenten den Auftrag der Alliierten USA, England und Frankreich, eine „verfassungsgebende Versammlung“ einzuberufen. Der Parlamentarische Rat begann seine Arbeit am 1. September desselben Jahres: vier Frauen und 61 Männer, gewählt von den Landtagen der Bundesländer. Sie wurden die „Mütter und Väter“ der Verfassung, die nun 75 Jahre wird. Der Auftrag war klar. Um es mit der damaligen Delegierten Helene Wessel zu sagen: „Das Grundgesetz ist ein lebendiges Dokument, das die Rechte und Freiheiten aller Menschen schützen muss.“
Alle Menschen gleichermaßen zu schützen – was heute selbstverständlich klingen mag, war damals das Ergebnis harter Auseinandersetzungen. Ein Großteil der männlichen Mitglieder des Parlamentarischen Rates weigerte sich beispielsweise zunächst, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in den Gesetzestext aufzunehmen. Erst ein von Ratsmitglied Elisabeth Selbert initiierter Protest, der Tausende Briefeinsendungen zur Unterstützung der Forderung nach sich zog, war erfolgreich: Der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ wurde im Artikel 3 festgeschrieben.
Für die im Grundgesetz festgeschriebene Gleichberechtigung von Männern und Frauen traten Helene Wessel, Elisabeth Selbert, Helene Weber und Friederike Nadig ein. Sie werden auch als „Mütter des Grundgesetzes“ bezeichnet.
Das Grundgesetz – ein Provisorium für die Ewigkeit?
Entstanden ist das Grundgesetz als Provisorium. Deshalb auch der Name Grundgesetz – und nicht etwa Verfassung. Der einfache Grund: Die Schöpferinnen und Schöpfer des Grundgesetzes wollten die damalige Teilung Deutschlands nicht manifestieren. Stattdessen sollte die Möglichkeit bestehen bleiben, im Falle einer Wiedervereinigung eine gemeinsame Verfassung zu verabschieden. Da das Grundgesetz dennoch von Anfang an neben den Grundrechten auch den Staatsaufbau regelte, war es de facto schon immer eine Verfassung.
Als es 40 Jahre später tatsächlich zur Wiedervereinigung kam, bekannten sich auch die neuen Bundesländer zum Grundgesetz. Damit ist es seit dem 3. Oktober 1990 gesamtdeutsche Verfassung – und trotz des Namens, der beibehalten wurde, kein Provisorium mehr.
Was regelt das Grundgesetz?
Der Name ist Programm: Das Grundgesetz regelt die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands. Der wichtigste und wohl auch bekannteste Artikel ist gleichzeitig Leitgedanke und ein klarer Auftrag für den Staat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und weiter: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Artikel 1, Absatz 1 ist als Reaktion auf die zwölfjährige NS-Herrschaft entstanden – an Aktualität hat er jedoch nicht verloren. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung etwa, das aus Artikel 2 in Verbindung mit Artikel 1 abgeleitet wird, spielt eine zentrale Rolle im digitalen Zeitalter. Es gibt den Bürgerinnen und Bürgern die Kontrolle über ihre persönlichen Daten und schützt vor unbefugter Sammlung und Nutzung.
In den Grundrechten werden aber auch die Religionsfreiheit (Artikel 4 GG), das Versammlungsrecht (Artikel 8 GG) und das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10 GG) gesichert. Auch die Entscheidung, an Ostern in die Kirche zu gehen oder auch nicht, für oder gegen etwas zu protestieren oder die Sicherheit zu haben, dass E-Mails nur von rechtmäßigen Empfängerinnen und Empfängern gelesen werden, sind also Alltagserfahrungen, die das Grundgesetz sichert.
Daneben regelt das Grundgesetz unter anderem die föderale Struktur, also das Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Und auch die Funktion und die Aufgaben des Bundestages, des Bundesrates, der Bundesregierung und der Bundespräsidentin oder dem Bundespräsidenten sind in unserer Verfassung festgelegt. Ebenfalls im Grundgesetz verankert sind das Sozialstaats- und das Rechtsstaatsprinzip.
Auch das hat entscheidende Auswirkungen auf das Leben in Deutschland: Der Staat muss sich um die soziale Sicherheit und Gerechtigkeit kümmern – und tut das zum Beispiel durch die Arbeitslosen-, Renten- und Sozialversicherung. Das Rechtsstaatsprinzip sichert etwa die Gewaltenteilung im Staat, die Rechtssicherheit oder auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dadurch wird zum Beispiel garantiert, dass jeder Bürger und jede Bürgerin den Staat vor Gericht verklagen kann und darüber von unabhängigen Richterinnen und Richtern entschieden wird.
"Das Grundgesetz ist also eine ziemlich gute Sache, die uns alle im Alltag berührt und die es zu schützen lohnt."
Wie gut ist das Grundgesetz 2024?
Trotzdem gab und gibt es sich verändernde Bedürfnisse – auf die eingegangen werden kann und muss. Auch dafür hat unsere Verfassung eine Antwort: Nach Artikel 79 kann das Grundgesetz durch ein Gesetz geändert werden. Allerdings bedarf ein solches Gesetz der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Seit 1949 ist das 67-mal geschehen. Durch die Änderungen wurden insgesamt 122 Grundgesetzartikel geändert.
Aber bestimmte Dinge dürfen nicht geändert werden: Die grundlegenden Prinzipien der Verfassung, also Demokratie, Bundes-, Rechts- und Sozialstaatlichkeit, sind von einer Änderung auf diesem Wege durch die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ (Artikel 79, Absatz 3) ausgeschlossen.
Aktuell wird diskutiert, ob der Klimaschutz dezidiert in das Grundgesetz aufgenommen und die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichtes durch eine Änderung geschützt werden sollte.
Das Grundgesetz ist also eine ziemlich gute Sache, die uns alle im Alltag berührt und die es zu schützen lohnt. Denn wenn unsere demokratische Verfassung bedroht wird, gerät auch unsere Demokratie und damit die Freiheit aller in Gefahr.