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/ Aus Geschichte lernen

Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich

Wieso wir für eine demokratische Zukunft Geschichtsbewusstsein brauchen, erklärt Andrea Hoffend, Historikerin und Initiatorin des Lernortes Kislau. Ein Interview

© Lernort Kislau e.V. | Hier sollen Menschen künftig mehr über die badische Landesgeschichte erfahren: Die Aussenansicht des geplanten Lernortes Kislau vor dem ehemaligen Konzentrationslager.

 

„Geschichte für die Zukunft“: So lautet das Motto des Lernorts Kislau in Baden-Württemberg. Die Schlossanlage Kislau war während des Naziregimes von 1933 bis 1939 ein frühes Konzentrationslager. Das Team um Historikerin Andrea Hoffend hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Ort und seine Vergangenheit zu erforschen und für Menschen jeden Alters zugänglich zu machen. Um dort aus und mit der Geschichte zu lernen – für die Zukunft.

Frau Hoffend, wieso ist es aus Ihrer Sicht so wichtig, dass wir uns als Gesellschaft aktiv mit unserer Geschichte auseinandersetzen? 

Im Gegensatz zu anderen Kolleginnen und Kollegen würde ich nicht sagen, dass Geschichte sich wiederholt. Aber sie reimt sich. Das heißt Gleichsetzung geschichtlicher Ereignisse bringt uns nicht weiter, aber kritische Vergleiche und Entwicklungen miteinander in Bezug zu setzen, sehr wohl. Und dazu möchten wir mit unserer Vereinsarbeit beitragen, weil wir denken, dass so ein Lernen aus der Geschichte möglich ist und nötig ist. 

Inwiefern trägt Geschichtsarbeit zu einer demokratischen Gesellschaft bei?  

Eine gelungene Geschichtsarbeit kann Kritikfähigkeit fördern, die Fähigkeit für das Erkennen von Zusammenhängen für die Fragilität historischer Errungenschaften wie Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung oder Rechtsstaatlichkeit. Das ist, was ich mir als Ergebnis dieser Arbeit wünsche: Menschen sollen nachdenklich werden und von selbst darauf kommen, dass Demokratie oder Rechtstaatlichkeit schützenswerte Güter sind. 

Welche Gefahren sehen Sie, wenn Geschichtsbewusstsein abhandenkommt?  

Dann gibt es solche Entwicklungen, wie wir sie jetzt in Teilen Deutschlands beobachten können: Viele Menschen wollen nicht mehr anerkennen, dass Demokratie anstrengend ist, und wenden sich Gruppierungen zu, die ihnen vermeintlich einfache Lösungen anbieten. Damit handeln sie nicht nur gegen ihre eigenen ökonomischen Interessen, sondern letztlich auch gegen ihre ureigenen Freiheitsinteressen. Wir müssen deshalb immer und immer wieder aufzeigen, dass Demokratie zwar in der Tat anstrengend ist, aber dass es zu dieser Anstrengung keine wirklich wünschenswerte Alternative gibt.

Wie vermittelt man Geschichte vor allem jungen Menschen, die – das ergibt sich von selbst – zeitlich immer weiter entfernt vom Nazi-Regime aufwachsen, über dessen Taten Ihr Verein aufklären? 

Man sollte die Menschen weder belehren, noch von ihnen Betroffenheit einfordern. Sondern ihnen ergebnisoffen und auf Augenhöhe begegnen, ihnen Angebote zum aktiven Mitmachen unterbreiten und ihnen bei alledem die Relevanz dieser Vergangenheit für ihre eigene Gegenwart und Zukunft aufzeigen.

So besteht etwa das mobile Geschichtslabor, das wir entwickelt haben, aus Mitmachelementen wie Klappen, Schiebern und Reglern. Mit ihrer Hilfe können sich die Nutzerinnen und Nutzer im Rahmen von Kleingruppenarbeit eigenständig nicht nur mit historischen Fakten, sondern – davon ausgehend – mit Gegenwartsfragen rund um Recht und Unrecht, Demokratie und Diktatur auseinandersetzen. Sie werden dazu angeregt, miteinander darüber ins Gespräch zu kommen. Wer Menschen vom Wert der Demokratie überzeugen möchte, muss dies mit demokratischen Mitteln und Methoden tun. 

An „Schiebern und Reglern“ können Menschen beim Besuch des mobilen Geschichtslabors, wie hier bei einem Fest in Karlsruhe, die Geschichte ihres Landes entdecken.

 

Die große zeitliche Distanz schließt nicht aus, dass sich die damaligen Geschehnisse jüngeren Menschen auch heute noch nahebringen lassen. Unser Verein bricht die NS-Geschichte auf die regionale und lokale Ebene herunter. Damit stellen wir bereits eine unmittelbare räumliche Nähe her. Nach dem Motto: Schaut her, das ist nicht im fernen Berlin passiert, sondern hier bei uns vor Ort. Eine noch größere Nähe lässt sich schaffen, indem man stark mit biografischen Zugängen arbeitet. Dies tun wir nicht nur in den Motion Comics, in denen wir Geschichte aus der Ich-Perspektive jeweils einer historischen Persönlichkeit aufbereiten, sondern auch in unseren anderen Vermittlungsformaten wie dem Labor.

Auf dem Areal des 1933 errichteten Konzentrationslagers Kislau südlich von Heidelberg plant der Lernort Kislau e.V. eine Bildungsstätte, an der ein Bogen von der badischen Landesgeschichte der Jahre 1918 bis 1945 in unsere Gegenwart gezogen werden soll. Mit einem mobilen Geschichtslabor sowie einer Wanderausstellung ist der Verein im gesamten ehemaligen Land Baden auf Tour, im Internet mit einer Lernplattform. Herzstück dieser Lernplattform sind selbst produzierte Motion Comics, in denen historische Ereignisse aus der Sicht jeweils einer beteiligten Person geschildert werden.

 

Wie sollen Menschen den Lernort Kislau, den Sie errichten möchten, nach einem Besuch verlassen? 

Sie sollen um die Erkenntnis reicher sein oder sich in der Erkenntnis bestätigt fühlen, dass es in Deutschland nie wieder zu einem solchen Ausmaß an Rechtsbeugung, zu einer solchen Verhöhnung der Menschenwürde kommen darf wie jenem, für das Lager wie Kislau symbolisch stehen. Und sie sollen erkennen, dass, wir alle – auch sie selbst – gefordert sind, den Gang in ein Unrechtsregime rechtzeitig abzuwenden. Dies wäre ein Geschichtsbewusstsein im allerbesten Sinne, nämlich im Sinne eines Bewusstseins für die Wichtigkeit, aber eben zugleich für die Zerbrechlichkeit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

 

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