Mehr Inklusion, bessere Teilhabe: Das fordern die Aktivist*innen
Rampen statt Treppen, breite Türen, Fahrstühle und absenkbare Busse – daran denken die meisten Menschen, wenn sie über Barrierefreiheit sprechen. Doch für Menschen mit einer Schwerbehinderung geht es um viel mehr: Viele Orte und Lebensbereiche – besonders im alltäglichen Leben – haben Barrieren, die man nicht sofort erkennt. Menschen mit Behinderung wird so noch immer gesellschaftliche Teilhabe verwehrt. Aktivist*innen kämpfen seit vielen Jahren dafür, dies zu ändern.
Am 5. Mai kämpfen Aktivist*innen für eine bessere Teilhabe für Menschen mit Behinderung. (Bild: Aktion Mensch / Jennifer Rumbach)
Auch in diesem Jahr finden deshalb am 5. Mai, dem Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, wieder zahlreiche Aktionen statt. Sie sollen auf die Missstände in der Gesellschaft und die Schwierigkeiten von Menschen mit Behinderung aufmerksam machen – aufgrund der Corona-Pandemie in diesem Jahr vor allem digital.
Jedes Jahr veranstalten Verbände und Organisationen der Behindertenhilfe und -selbsthilfe rund um den 5. Mai überall in Deutschland Podiumsdiskussionen, Informationsgespräche, Demonstrationen und andere Aktionen. Damit zeigen sie auf, wo Inklusion überall noch nicht gelebt wird, obwohl sie in unserem Grundgesetz und in der UN-Behindertenrechtkonvention verankert ist. Das Motto in diesem Jahr lautet, passend zum Wahljahr: „Deine Stimme für Inklusion – mach mit!“
Worum geht es beim 5. Mai?
Der Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung wurde 1992 ins Leben gerufen – vom Verein Selbstbestimmt Leben, einer Interessenvertretung von Menschen mit Behinderung. Seit 1998 hat es sich die Aktion Mensch zur Aufgabe gemacht, dieses Engagement rund um den 5. Mai zu bündeln. Dazu entwickelt sie jedes Jahr ein übergreifendes Motto, das den Schwerpunkt des jeweiligen Protesttages in den Fokus rückt. Passend dazu werden Materialien für die Öffentlichkeitsarbeit sowie Aktionsmittelpakete wie zum Beispiel Schablonen für Plakate, Sprühkreide oder Checklisten für eine politische Diskussion angeboten. Zudem werden Projekte finanziell unterstützt. Durch dieses konsequente Engagement ist es den Aktivist*innen gelungen, über die Jahre immer wieder Aufmerksamkeit auf die Anliegen von Menschen mit Behinderung zu lenken. Die Zahlen belegen ein steigendes Interesse in der Gesellschaft: 1998 gab es rund 100 Veranstaltungen – 2014 waren es bereits 750.
Mehr Inklusion, bessere Teilhabe – dafür kämpfen die Aktivist*innen. (Bild: Aktion Mensch / Thilo Schmülgen)
Jedes Jahr setzen sich Menschen mit Behinderung – aber auch immer mehr Menschen ohne Behinderung – so gemeinsam für Fortschritte auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ein. Dabei werden insbesondere aktuelle wichtige Gesetzesvorhaben zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung begleitet. So wurde beispielsweise mit den Aktionen im Jahr 1994 die Änderung von Artikel 3 des Grundgesetztes zur rechtlichen Gleichstellung von Menschen mit Behinderung unterstützt. Ebenso die UN-Behindertenrechtskonvention für gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft, welche in Deutschland im Jahr 2009 anerkannt wurde. Die UN-Konvention konkretisiert die Menschenrechte im Hinblick auf Menschen mit Behinderung und gibt rechtliche Standards vor Doch auch fast 12 Jahre nach Inkrafttreten in Deutschland besteht vor allem in den Bereichen Barrierefreiheit, Bildung, Arbeitsmarkt und Rechtsdurchsetzung noch Handlungsbedarf.
2021 stehen die alltäglichen Teilhabe-Barrieren im Fokus
Eben darum geht es auch in diesem Jahr am 5. Mai. Das Problem: In Deutschland gibt es kein Gesetz, das die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit verpflichtet. Das betrifft zum Beispiel Supermärkte, Einkaufszentren, Cafés, Restaurants und Banken, aber auch Sportplätze und Fitnessstudios. Bestehende Gesetze gelten fast nur für den öffentlichen Sektor, zum Beispiel für Behörden oder den Nahverkehr. Mit dem European Accessibility Act (EAA) ist am 28. Juni 2019 eine EU-Richtlinie über die Barrierefreiheitsanforderungen insbesondere für digitale Produkte und Dienstleistungen in Kraft getreten. Auch Deutschland muss die Richtlinie bis 2022 in nationales Recht umsetzen. Deshalb sehen die Aktivist*innen jetzt ihre Chance, ein neues Barrierefreiheitsgesetz mitzugestalten.
Hier geht's zum Animationsfilm „Wie stark ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) wirklich?“
Auch am 5. Mai fordern sie deshalb den Abbau von Teilhabe-Barrieren im alltäglichen Leben. Oft sind dabei tatsächliche physische Hindernisse ein Problem. So etwa beim Thema individuelle Mobilität und Reisen. Menschen mit Behinderung ist es oft nicht möglich, spontan mit der Bahn zu reisen, ohne Voranmeldung oder Organisation einer Begleitperson. Hier sehen die Aktivist*innen großen Handlungsbedarf. Auch Spielplätze, Schulen, Sporthallen, Cafés und Fußgängerzonen sollen so gestaltet sein, dass sie für alle Menschen zugänglich und nutzbar sind.
Doch nicht nur physische oder digitale Hindernisse verwehren Menschen mit Behinderung die Teilhabe an der Gesellschaft: Auch sprachliche Barrieren sorgen dafür, dass sie oft ausgeschlossen werden. Viele Menschen sind zum Beispiel auf sogenannte Leichte Sprache oder zumindest eine Einfache Sprache ohne Schachtelsätze und Fremdwörter angewiesen. Sie macht es Menschen mit geistiger Behinderung, eingeschränktem Leseverständnis, Seh- oder Hörbehinderung leichter, einen Text zu verstehen, und hilft auch Menschen, die nicht gut Deutsch sprechen können. Wo darüber hinaus noch die größten Probleme im Alltag liegen, zeigt eine aktuelle Studie der Aktion Mensch.
In diesem Jahr können die Aktivist*innen nicht gemeinsam vor Ort protestieren. (Bild: Aktion Mensch / Hartmut Reiche)
Was sonst durch Aktionen vor Ort ins öffentliche Bewusstsein gerückt wurde, muss aufgrund der Corona-Pandemie in diesem Jahr größtenteils digital stattfinden. Dennoch finden auch in diesem Jahr insgesamt rund 350 Aktionen statt – mit einem klaren Appell: Das Recht auf gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe muss für alle Menschen gelten – und durch gesetzliche Bestimmungen für alle Lebensbereiche gesichert werden, auch in der Privatwirtschaft. Wie vielfältig und kreativ die Ideen sind – von einer Installation am Brandenburger Tor über eine begehbare Ausstellung in Potsdam, inszenierte Barrieren in Aachen bis hin zu einem internationalen Digital-Talk – ist hier zu sehen.
Die Aktion Mensch möchte auf den Protesttag am 5. Mai aufmerksam machen und die Forderungen von Menschen mit Behinderung nach mehr Rechten unterstützen. Unter dem Hashtag #5Mai können Unterstützer*innen das Visual der diesjährigen Kampagne posten und so ihre Stimme für mehr Inklusion einsetzen.
Sie möchten mehr erfahren? Hier gibt es alle Informationen zum diesjährigen 5. Mai und weitere Ideen und Anregungen, wie Sie sich für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderung einsetzen können.