Realitätsfern? Darum müssen betroffene Menschen miteinbezogen werden
Wie barrierefrei ist Deutschland? Eine aktuelle Umfrage der Aktion Mensch zeigt: Obwohl wir in einem Land leben, in dem Inklusion in der Theorie großgeschrieben wird, herrscht Nachholbedarf. Immer wieder müssen Menschen mit Behinderung große Hürden überwinden – im Alltag, auf Reisen, im Nahverkehr und sogar im Job, wenn zum Beispiel modernste Technologie trotz aller Möglichkeiten nicht so gestaltet ist, dass ein blinder Mensch sie intuitiv bedienen kann.
Domingos de Oliveira (Bild: Aktion Mensch / Jennifer Rumbach)
Wir sprachen mit Domingos de Oliveira. De Oliveira ist selbst blind. Seit Jahren doziert er als selbständiger Accessibility Consultant, ist als Betreiber der Seite Netz-Barrierefrei.de aktiv und informiert sehr engagiert zu allen theoretischen und praktischen Aspekten, die die Themen Inklusion und Barrierefreiheit mit sich bringen.
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Lieber Herr de Oliveira, Sie setzen sich seit Jahren sehr engagiert für die Themen Inklusion und Barrierefreiheit ein. Wo stehen wir in Deutschland heute, insbesondere wenn es um bauliche Aspekte und das Thema Mobilität geht?
Domingos de Oliveira: Ehrlich gesagt stehen wir hier noch sehr weit am Anfang. Das fängt allein an den Bahnhöfen und Bushaltestellen an. Selbst vermeintlich barrierefreie An- und Durchsagen sind oft sehr chaotisch und verwirrend. Für Menschen mit einer Geh- oder Sehbehinderung ist das Reisen eine große Herausforderung und ohne Begleitung eine große Strapaze – hier besteht definitiv Handlungsbedarf.
Gerade in der Arbeitswelt zeigt sich schnell: Inklusion ist so viel mehr als Quote. Welche praktischen, baulichen und strukturellen Einschränkungen erleben Menschen tagtäglich in ihrem Berufsalltag? Was wird hier getan?
Domingos de Oliveira: Auch hier fehlen oftmals die baulichen Voraussetzungen, längst nicht alle Büros und Gebäude sind barrierefrei konzipiert. Gleiches gilt für Softwarelösungen und Kollaborationstools. Wenn Mitarbeiter*innen mit einer Behinderung hier allein gelassen werden und auf ihre Bedürfnisse nicht eingegangen wird, können sie ihren Job nicht richtig ausüben. Das führt nicht zuletzt auch zu einer großen seelischen Belastung für die Betroffenen, die sich oftmals selbst Vorwürfe machen und Angst haben, die Prozesse für nicht behinderte Kollegen und Kolleginnen zu verlangsamen.
(Bild: Aktion Mensch / Thilo Schmülgen)
Der Pandemie wird nachgesagt, dass sie das Thema Digitalisierung vielerorts massiv beschleunigt hat. Das Homeoffice kann Menschen mit Behinderung das Arbeitsleben erleichtern, andererseits aber auch das so wichtige Engagement von Arbeitgeber*innen für Barrierefreiheit verlangsamen. Wie stehen Sie zu dem Thema? Und welche Auswirkungen haben die Kontaktbeschränkungen auf Menschen, die im Alltag mit Assistenz leben?
Domingos de Oliveira: Auch hier gilt, dass die eingesetzten Lösungen und Technologien dringend barrierefrei sein müssen, damit Menschen mit Behinderung mit ihnen gut und produktiv arbeiten können. Natürlich darf das Homeoffice nicht dazu führen, dass wichtige Veränderungen und bauliche Maßnahmen nach hinten priorisiert werden. Die Kontaktbeschränkungen durch die Pandemie wirken sich gleich auf mehreren Ebenen aus. Zum einen ist es für viele Menschen gerade jetzt schwer, überhaupt Zugang zu dringend benötigten Assistenzen zu bekommen. Zum anderen birgt die physische Nähe natürlich auch Ansteckungsrisiken in beide Richtungen – insbesondere, wenn die Menschen, die Assistenzen in Anspruch nehmen, zu Risikogruppen zählen, ist das eine große Belastung.
In Deutschland lag die Anzahl der Menschen, die einen Schwerbehindertenausweis haben, 2019 bei rund 7,9 Millionen Menschen – das ist knapp jeder zehnte Bundesbürger. Viele Menschen mit einer körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung erleben trotz vermeintlicher Inklusion Schwierigkeiten und Diskriminierung in ihrem Alltag. Was wünschen Sie sich von der Politik?
Domingos de Oliveira: Am meisten wünsche ich mir, dass Betroffene stärker aktiv in die Entscheidungen mit eingebunden werden, damit diese auch die Lebensrealität von Menschen mit einer Behinderung erreichen. Viele Gesetze und bürokratische Prozesse sind aktuell eher praxisfern. Hier würde die Politik sehr davon profitieren, Betroffene mit einzubinden.
Auf Ihrer Webseite haben Sie ein wichtiges Motto aufgegriffen: „Wenn Du es nicht machst, macht es keiner“. Warum ist das Engagement jedes Einzelnen im Bereich Barrierefreiheit so wichtig?
Domingos de Oliveira: Jede*r Einzelne kann und muss auf das Thema Barrierefreiheit aufmerksam machen, um Hürden im Alltag abzubauen. Die allermeisten von uns haben Menschen im Familien- und Freundeskreis, die aufgrund einer Behinderung oder schlichtweg ihres Alters auf Barrierefreiheit angewiesen sind, um ihren Alltag zu meistern. Für mich ganz persönlich ist klar: Wenn ich mir wünsche, dass Webseiten und Informationsangebote barrierefrei gestaltet sind, achte ich darauf natürlich auch bei meiner eigenen Internetseite.
Am 5. Mai jährt sich der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Die Aktion Mensch unterstützt den Tag, um aufmerksam zu machen: Auf die Bedürfnisse, aber vor allem auch auf die Teilhabe-Barrieren für Menschen mit Behinderung im Alltag. Aus Ihrer Erfahrung: Wie können wir die Menschen in unserem Umfeld am besten für das Thema Barrierefreiheit sensibilisieren?
Domingos de Oliveira: Wir sollten vor allem darüber sprechen. Oft ist nicht betroffenen Menschen gar nicht bewusst, wo überhaupt Barrieren lauern. Je mehr wir darüber sprechen, desto mehr können wir alle ins Handeln kommen. Ein wichtiges Ziel für eine barrierefreie Welt, an der jeder Mensch teilhaben kann.
Herzlichen Dank für das Gespräch!