„Inklusion ist keine Gleichmacherei, sondern ein Grundrecht“
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ – seit 1994 fordert eine Ergänzung von Artikel 3 unseres Grundgesetzes die Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz. Eine Gleichstellung, die zwar theoretisch existiert – in der Praxis jedoch oftmals fernab der Lebensrealität betroffener Menschen in Deutschland kaum oder deutlich mangelhaft umgesetzt wird. Auch zeigt eine aktuelle Studie der Aktion Mensch1, dass sich 70 Prozent der Befragten mit einer sichtbaren oder unsichtbaren Behinderung mehr verfügbare Informationen und eine bessere Aufklärung zu eigenen Ansprüchen und Rechten wünschen.
Auch Dunja Fuhrmann begegnen täglich Barrieren. (Bild: Peter Reichert)
Doch warum ist es so schwierig, das Thema Barrierefreiheit und Inklusion in einem hochentwickelten Land wie Deutschland praxisnah zu gestalten – und damit positiven Beispielen wie etwa Österreich und Großbritannien zu folgen?
Wir sprachen mit Dunja Fuhrmann. Die Saarländerin sitzt seit einer Erkrankung im Jugendalter im Rollstuhl. Als Sozialpädagogin und stellvertretende Vorsitzende des BSK-Landesverbandes Selbsthilfe Körperbehinderter Saarland (LSK Saarland) e. V. hat sie eine klare Vorstellung davon, was sich auf politischer Ebene verändern muss, wenn wir Inklusion und Barrierefreiheit wirklich leben wollen.
--
Liebe Frau Fuhrmann, 2019 lag die Anzahl der Menschen, die einen Schwerbehindertenausweis haben, in Deutschland bei rund 7,9 Millionen Menschen – das ist knapp jede*r zehnte Bundesbürger*in. Viele Menschen mit einer körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung erleben trotz vermeintlicher Inklusion Schwierigkeiten und Diskriminierung in ihrem Alltag. Was wünschen Sie sich von der Politik – nicht nur in einem Wahljahr wie diesem?
Dunja Fuhrmann: Vor allem wünsche ich mir bundeseinheitliche und umfassende Rechte für Menschen mit einer Behinderung – und dass wir über genau diese Rechte ausreichend informiert werden. Ich wünsche mir, dass Barrierefreiheit und Antidiskriminierung praktisch umgesetzt werden, damit Inklusion tatsächlich gelebt werden kann.
Gibt es Länder, von denen Deutschland sich in puncto Inklusion eine Scheibe abschneiden könnte?
Dunja Fuhrmann: Barrierefreiheit muss definitiv eine Grundvoraussetzung sein, die allen Menschen gleichberechtigten Zugang zur selbstbestimmten gesellschaftlichen Teilhabe gewährt und es jedem Menschen ermöglicht, sich in allen Lebensbereichen ohne Hindernisse zu bewegen. International gesehen sind Amerika und Kanada hier schon sehr weit. Aber auch hier in Europa zeigen etwa Österreich und Großbritannien, wie Antidiskriminierungsgesetze und Gleichstellung tatsächlich auch praxisnah umgesetzt und gelebt werden können.
(Bild: Pressefoto Adam)
Was viele übersehen: Inklusion fängt nicht erst mit Eintritt in die Arbeitswelt, sondern schon im Kindesalter an. Aus Ihrer Erfahrung: Wie lässt sich die Konzeption eines inklusiven Bildungssystems mit einem Maximum an sozialer Teilhabe und einem Minimum an Diskriminierung in der Praxis umsetzen? Welche Rolle spielt hier der Föderalismus?
Dunja Fuhrmann: 2008 ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten. Die Inklusionsdebatte ist sogar schon wesentlich älter – dennoch habe ich das Gefühl, dass die Politik hier die letzten Jahre geschlafen hat. Seit 1975 gibt es Konzepte in Deutschland, wie Inklusion in Schulen umgesetzt werden könnte, praktisch passiert hier wenig. Dabei ist es immer wieder wichtig zu betonen, worum es wirklich geht: Denn „inklusiv“ heißt nicht Gleichmacherei, sondern gleiche Rechte für alle. Kinder sollen chancengleich gemeinsam lernen können. Das bedeutet, dass die Kinder ganz individuell gut gefördert werden müssen. Ein weit verbreitetes Vorurteil, dass inklusiver Unterricht leistungsfeindlich sei, trifft in der Praxis absolut nicht zu. Jedes Kind – egal, ob es hochbegabt ist oder fachlichen Förderbedarf hat – wird im Rahmen einer inklusiven Pädagogik individuell gefördert und mitgenommen.
Was uns das vergangene Jahr mit der Corona-Pandemie wieder gezeigt hat ist: Bildung sollte einheitlich sein – das schließt auch eine Gleichbehandlung zwischen den Ländern ein. Allein die Debatte um die Schulabschlüsse zeigt, dass jedes Bundesland sprichwörtlich sein eigenes Ding macht – hier steht man sich auch in puncto Inklusion ziemlich im Weg. Ebenso gilt dies übrigens auch für die bauliche Barrierefreiheit – diese MUSS bundeseinheitlich sein, um deutschlandweit gleichwertige Lebensverhältnisse sicherzustellen.
Bis dato gibt es in Deutschland kein Gesetz, das die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit verpflichtet.Eine aktuelle Umfrage der Aktion Mensch hat gezeigt, dass dieses Thema Betroffene sehr beschäftigt und sich viele Menschen entsprechende strukturelle Anpassungen wünschen. Wie stehen Sie zu dem Thema?
Dunja Fuhrmann: Da bin ich absolut überzeugt: Produkte und Dienstleistungen müssen für Alle zugänglich und nutzbar sein. Daher MUSS die Privatwirtschaft zu Barrierefreiheit verpflichtet werden, denn freiwillig passiert nichts. Gleichstellungsgesetze erleben wir heute hauptsächlich in (bundes-) öffentlichen Bereichen und in Landesbehörden. Doch das Leben spielt sich dort nicht ab. Österreich ist hier zum Beispiel schon viel weiter. Oft wird ein wirtschaftlicher Nachteil befürchtet, wenn Unternehmen per Gesetz zu Barrierefreiheit verpflichtet werden – was in meinen Augen absoluter Quatsch ist. Schließlich profitiert die Privatwirtschaft ja auch von Menschen mit Behinderung als Kunden. Insgesamt wird unsere Gesellschaft immer älter – wenn die Menschen aufgrund von physischen Barrieren wie Stufen nicht mehr in die Geschäfte kommen, merkt das auch der Handel direkt.
Am 5. Mai jährt sich der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Die Aktion Mensch unterstützt den Tag, um aufmerksam zu machen: Auf die Bedürfnisse, aber vor allem auch auf die Teilhabe-Barrieren für Menschen mit Behinderung im Alltag. Aus Ihrer Erfahrung: Wie können wir die Menschen in unserem Umfeld am besten für das Thema Barrierefreiheit sensibilisieren?
Dunja Fuhrmann: Ganz wichtig ist es, das Thema immer wieder anzusprechen – auch bei Nicht-Betroffenen. Denn: Barrierefreiheit nützt allen und benachteiligt niemanden. Auch für Familien mit Kindern, ältere Menschen und Tourist*innen ist eine barrierefreie Infrastruktur ein großer Vorteil. Ich finde es sehr wichtig, dass wir auch mit Menschen sprechen, die bisher keine Berührungspunkte mit dem Thema hatten. Es helfen Gespräche im Freundeskreis, aber auch Einzelhändler*innen gilt es für das Thema Barrierefreiheit zu sensibilisieren, etwa wenn Stufen den Zugang zum Geschäft erschweren.
(Bild: Peter Reichert)
Meiner Meinung nach sollte auch das Fernsehen viel öfter Beispiele zeigen, inwiefern Barrierefreiheit etwas ist, von dem letztendlich nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern alle profitieren. Auch ein Selbsttest kann helfen. Wenn man zum Beispiel für einen Tag die eigene Stadt mit einem Rollator oder Kinderwagen erkundet, kann man vieles besser nachempfinden. Vor allem geht es dabei um Menschenrechte und Würde. Ich bin selbst Rollstuhlfahrerin – und ich möchte nicht getragen werden, sondern möchte als erwachsene Person selbstständig reinkommen können, sei es in einen Zug, ein Geschäft oder eine Freizeiteinrichtung.
Der Europäische Protesttag am 5. Mai wird nun schon seit über 25 Jahren begangen – langsam ist es an der Zeit, dass sich wirklich etwas in der Praxis verändert.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
1Im Rahmen einer quantitativen Online-Befragung wurden 1.001 Menschen mit Schwerbehinderung im Alter von 16 bis 64 Jahren befragt.